Ein, zwei Leute haben sich eine Fortsetzung gewünscht. Ab hier wird die Geschichte abwechselnd von den Protagonisten weitererzählt.
Phyllis
Phyllis ging gemessenen Schrittes die Straße hinunter. Sie wusste, dass sie schon vor einer Stunde hätte da sein müssen, aber das war für sie kein Grund, sich zu beeilen. Man konnte nicht direkt sagen, dass Phyllis arrogant war, aber die Art, mit der sie Pflichten belächelte, war nicht immer angenehm. Sie wusste, wie begabt sie war und besuchte den Unterricht nur, weil es gesetzlich vorgeschrieben war. Durch die Vereinheitlichung des Schulsystems auf Europaebene musste die Sekundarstufe zwei zu einem dreißigstündigen Leistungskurs zusammengefasst werden. So hatten alle europäischen Bürger eine vergleichbare Schulbildung. Die dreißig Stunden wurden jeweils in Doppelstunden abgehalten, die einmal in der Woche am Nachmittag stattfanden, aber ein gründliches Maß an Vor- und Nachbereitung erforderten – auch für die Schüler. Dass Phyllis jeweils die erste Hälfte der Stunden schwänzte oder auch nur jede zweite besuchte, ließ sich darauf zurückführen, dass sie bis vier Uhr nachmittags etwas Besseres zu tun hatte, als in einer heruntergekommenen Halle mit neunundvierzig anderen Schülern vor einer Staffelei zu stehen und nicht anfangen zu dürfen, weil sie „noch nicht so weit waren“. Ohne einen zertifizierten Abschluss in einem Fach wollte aber kein Arbeitgeber ihr eine Stelle geben.
Phyllis war immer schon angeberisch gewesen, eine Einzelgängerin. Einige behaupteten, ihr Ehrgeiz habe ihr die Möglichkeit genommen, mit anderen Menschen Kontakt zu halten. Andere sagten, dass sie sich selbst isolierte, um sich vor äußeren Angriffen zu schützen. Den meisten war es aber egal. Phyllis verstand es, sich in Szene zu setzen, konnte jeden Professor davon überzeugen, dass sie trotz allem eine gewissenhafte Schülerin war, wusste, wie man Männer für sich gewann und hatte mit allen männlichen Gemeindemitgliedern geschlafen. Mehr wusste man nicht über Phyllis. Und keiner bemühte sich, mehr herauszufinden.
Von außen bot Phyllis einen düsteren und außergewöhnlichen Anblick. Sie war sehr groß, hatte dichtes schwarzes Haar, das ihr oft zerzaust und ungekämmt bis über die Taille fiel. Ihre Augen waren eisgrau und ihre Haut weiß und rein, fast durchsichtig. Phyllis war fast immer stark geschminkt, sodass aus den dunklen Farbmengen ihre Iris noch heller, fast weiß hervortrat. Sie trug immer Stachelhalsbänder und Piercings, besonders in den Ohren, den Augenbrauen und der Nase. Phyllis trug nur schwarze Kleidung, schwarze Schnürstiefel (auch wenn die schon bessere Tage gesehen hatten), schwarze, weit ausgestellte Hosen weiße Blusen, zerknittert und meist viel zu groß, darüber ein Mieder aus Latex, ebenfalls schwarz. Doch niemand hätte es jemals gewagt, sie in eine Subkultur einzusortieren, weil Phyllis ausnehmend religiös sein sollte. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte. Ihre Kindheit hatte sie in einem Kloster verbracht, weit außerhalb der Stadt. Damals wurde sie geliebt und bewundert von jedermann, denn sie war höflich und folgsam, und schon damals hatte sich ihr Talent zur Abbildung von allen möglichen Objekten herumgesprochen. Was sie so verändert, was diese schwarze Phyllis ausgelöst hatte, wusste in der gesamten Stadt keiner. Und Phyllis sprach mit niemandem darüber. Insgesamt nervten sie die anderen eher.
Und jetzt war sie fast mit ihrem Kurs fertig, nur noch diese Stunde, dann bekam sie ihr Zertifikat und würde verschwinden. Vehement stieß sie die Tür zur Halle auf. „Pardon“, murmelte sie in den Raum. Niemand achtete auf sie. So setzte sich Phyllis auf ihren Platz und tat, als hörte sie der Professorin zu, die etwas von Bildzentrum und Glanzlichtern erzählte. Phyllis kannte ihre Worte bereits. Sie zitierte sie eins zu eins aus dem „Großen Lehrbuch der Malerei“, das Phyllis mit ihrem fotografischen Gedächtnis schon im Alter von sieben Jahren auswendig gekonnt hatte.
Es nervte sie, dass den Lehrern so viel an Originalität fehlte. Wie sollten sie denn der kommenden Generation überhaupt etwas beibringen, wenn diese sich dieses Wissen schon im Alleingang in einer simplen Klosterbibliothek aneignen konnte? Und da wunderte sich alle Welt, dass der Bildungsstand der Europäer sank. Vor fünfzig Jahren noch hatte man in der Schule Mathematik gelernt, die über das Zählen und Errechnen von Preisen hinausging, die mehr als nur Statistiken beinhaltete, und Sprachen, die so vielfältig und unterschiedlich waren, dass man mit ihnen um die Welt hätte reisen können. Das hatte man damals aber auch noch gebraucht. 2130 sprach ganz Europa Englisch, vereinzelt noch Französisch, alle anderen Sprachen und Dialekte waren auf ehemalige europäische Kolonien verlagert und durch Gesetze verboten worden. Man hatte es geschafft, Europa zu einem einzigen großen Land mit vielen kleinen Staaten zu machen. Wie die USA. Weil die doch als Weltmacht früher so viel erreicht hatten.
Und in so einem großen Land, musste man da denn überhaupt irgendwas richtig lernen? Es gab doch schon alles. Es wurde nichts und niemand benötigt. Also wozu das Gehirn benutzen?
Am Ende der Stunde sagte die Professorin: „Phyllis, würden Sie bitte noch einen Moment zu mir kommen?“. Phyllis packte widerwillig ihre Tasche und lief zehn Schritte, exakt zehn Schritte, sie hatte nachgezählt, bis zum Pult im vorderen Teil der Halle.
„Wissen Sie, warum ich mit Ihnen sprechen wollte?“, fragte sie nachdrücklich. „Sie werden es mir ohnehin gleich sagen“, gab Phyllis zurück. Die Lehrerin ignorierte Phyllis’ spitze Bemerkung – wie immer. „Da Sie keine Angehörigen mehr haben, ist es meine Aufgabe als Ihre Lehrerin und Mentorin, Ihnen diesen Bescheid von der Stadtverwaltung zukommen zu lassen.“ Phyllis nahm das Papier ohne ein Wort und überflog das seitenlange Dokument.
Sehr geehrte Frau Phyllis Niobs,
Nach dem psychiatrischen Befund, den wir nach Ihrer Beratung in unserem Städtischen neurologischen Institut bekamen, weisen wir Sie hiermit wegen Promiskuität, Kleptomanie, unkontrollierten Verhaltens...
Phyllis übersprang die nächsten zweieinhalb Seiten, die angeblich von einem Psychiater diktiert worden waren, zu dem sie nach einer Verhandlung wegen mehrfachen Raubes und Körperverletzung geschickt worden war, und die ihr noch weitere kranke Eigenschaften vorwarfen, bis sie das Satzende erreichte: In die Kilmoor Klinik ein. Sollten Sie sich nicht direkt nach Erhalt dieses Schreibens dorthin begeben, wird eine polizeiliche Fahndung ausgestellt werden und Sie werden auf gerichtliches Urteil hin an diesen Ort gelangen.
Phyllis verließ die Halle ohne ein weiteres Wort. Dass hinter ihr die Lehrerin ans Telefon gegriffen hatte, um die Polizei zu benachrichtigen, konnte sie nur ahnen.
So schnell ihre Beine sie trugen, rannte Phyllis zum Flughafen, der zwanzig Häuserblocks weiter am Ende der Stadt lag. Es war bereits dunkel, doch immer wieder drangen Strahlen von Taschenlampen in ihre Augen. Sie hatten schon angefangen, nach ihr zu suchen. Ohne ein Flugticket zu kaufen, stahl sich die junge Frau in den Gepäckraum einer Maschine. Sie wusste nicht, wohin sie flog, sie musste nur möglichst schnell weg von hier. Bis zum Ende des Fluges fand man sie nicht.
Als die Maschine gelandet war und Phyllis das Flugzeug verließ, schlug ihr die Kälte ins Gesicht. Sie musste sich einige tausend Kilometer weiter nördlich befinden. Als sie das Flughafengelände verließ und durch Schleichwege ins Stadtinnere gelangte, entdeckte sie ein Schild: Stockholm Post Office. Sie war in der schwedischen Hauptstadt gelandet. Wie sollte sie hier ohne Geld, Schulabschluss und legale Identität überleben?
Sie lief durch so viele Straßen, dass Phyllis bald nicht mehr wusste, woher sie eigentlich gekommen war. Irgendwann fiel ihr ein kleiner Laden auf. Er hatte ein winziges, finsteres Schaufenster, das nur durch eine flackernde Neonleuchte erhellt wurde. Darin lagen Spielzeuge. Komisch, dachte Phyllis, dass ein Spielwarenladen so eine hässliche Erscheinung haben kann.
Das Gebäude, eine Reihenhaushälfte, war alt und baufällig. Der Putz bröckelte von der Fassade, der Lack blätterte von Tür und Fensterrahmen, und das Schild über dem Schaufenster ließ nur noch erahnen, dass dort einmal „Petters Spielewelt“ gestanden hatte. Vorsichtig näherte Phyllis sich dem kleinen Laden und sah sich die Puppen und Teddys an, die liebevoll in dem kleinen Fenster drapiert, aber dann offenbar dort vergessen worden waren, denn alle miteinander waren von einer dicken Staubschicht überzogen, und der rote Samt, auf dem sie lagen, war zerfressen von Motten und ausgeblichen von dem spärlichen Bisschen Tageslicht, das es erreichte.
Sie legte die Hand auf den eisernen Türgriff, traute sich aber nicht, die Tür zu öffnen, denn etwas an diesem Laden hatte etwas unbeschreiblich Hoffnungsloses und Verzweifeltes. Er erinnerte sie an sie selbst. Warum, wusste sie selber nicht, aber sie hatte Angst vor dem, was passierte, wenn sie diese Tür öffnete. Trotzdem hatte sie das Gefühl, keine Wahl zu haben. Bald würde man wieder auf ihre Spur kommen. Sie würden nach ihr fahnden, und wenn sie sich dann nirgendwo verstecken konnte, dann würde man sie auch finden. Und dieser Ort schien ihr noch am sichersten, um den Kontrollen der europäischen Polizeibrigade auszuweichen.
Sie atmete noch einmal tief ein, drückte die Klinke herunter und wurde mit einem ohrenbetäubenden Geschrei empfangen. Es war ein Clown in der Schachtel, die man aus jedem Kinderzimmer kennt – ein rotnasiger Kopf an einer Sprungfeder, der mit merkwürdigen Geräuschen durch die Luft sauste. Und offenbar war die Schachtel durch das Öffnen der Tür umgekippt, sodass dieser Clown aus einem voll gepackten Regal auf Phyllis’ Augenhöhe vor ihrem Gesicht herumhüpfte. Der Clown hatte für Phyllis etwas wahnsinnig Makaberes an sich, doch sie hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn sobald sie die Sprungfeder ordentlich zurück in die Schachtel gedrückt hatte, brach erneut irres Geschrei aus. Diesmal brauchte sie länger, um die Quelle dieses Geräusches zu identifizieren. Es war ein Mann. Er war hochaufgeschossen und schlank, hatte schütteres graues Haar und trug eine grüne Kittelschürze. In der rechten Hand hielt er einen Lötkolben, aus dem noch Zinn tropfte, in der Linken hatte er eine kleine Säge. Ihr fielen seine Augen auf. Sie waren hell, aber nicht grau, sondern von einem sonderbaren Braunton, sie erinnerten an Gold oder geschälte Haselnüsse oder hellen Bernstein. Oder Crème Brûlée.
„Eine Kundin, Gustav, komm schnell, wir haben eine Kundin!“, rief der Mann mit einer Stimme aus, die es Phyllis kalt den Rücken hinunterlaufen ließ. Sie war höher als erwartet und klang irgendwie verrostet. Es klang so, wie wenn jemand rohe Karotten durch eine feine Käsereibe reibt. „Was kann ich für Sie tun?“, krächzte der große Mann dann. Phyllis blickte ihn an, blickte sich um, entdeckte noch mehr Staub, Spinnenweben, nahm einen sehr strengen Geruch wahr, und sah dann auf den Lötkolben in der Hand des Mannes, der inzwischen eine immer fester werdende Pfütze auf dem schmuddeligen Marmorboden hinterlassen hatte. Inzwischen hatte Gustav sich neben den Mann gestellt. Gustav war groß, sogar noch größer als Petter, hatte ein breites Kreuz, muskelbepackte Arme, und einen Gesichtsausdruck, gegen den Phyllis regelrecht freundlich aussah. Seine schwarzen Augen funkelten unter zusammenwachsenden Augenbrauen wütend auf sie hinunter, die Flügel seiner gewaltigen Nase zitterten vor Wut, und sein braunes Haar hatte er im Nacken zu einem strengen Zopf gebunden. Unterhalb des Gummibandes, das es zusammenhielt, sprangen widerspenstige Locken heraus. Sie hätten sein hageres Gesicht perfekt umrahmen können, hätte er sie kurz und offen getragen. Ein ausladender Schnurrbart verdeckte seine wahrscheinlich ohnehin sehr dünne Oberlippe, und seine Unterlippe sah aus, als würde sie sich gleich unsichtbar kräuseln. Phyllis überlegte sich gerade, dass es jetzt vielleicht nicht ratsam wäre, ehrlich zu sein, da hatte sie bereits gesagt: „Hier müsste mal jemand saubermachen.“
Wenn sie gefunden hatte, dass der freundliche, durchgeknallte Mann eine zu hohe Stimme hatte, hatte Gustav genug Stimme für sie beide. „Wann können Sie anfangen?“, fragte er.
Phyllis kam sich etwas überrumpelt vor und merkte, dass sich in den wenigen Minuten etwas an ihr verändert hatte. Sie beschloss, jetzt den Humor zu beweisen, den noch keiner an ihr wahrgenommen hatte, nicht mal sie selbst und sagte: „Hier geht’s aber schnell zur Sache.“ Sofort stellte sie fest, dass das nicht einmal witzig war. Nur störte sie das irgendwie nicht. Und auch sonst niemanden.
Ein weiteres Mal wurde Phyllis von einem ohrenbetäubenden Geräusch fast zu Tode erschreckt. „War nur ein Scherz! Aber gut gekontert. Ich bin Gustav. Und Sie? Wonach suchen Sie? Wir von Petters Spielewelt ha’m alles, was das Herz begelt, nach Teddys, Puppen, Spielzeuglok, suchen Sie im Katalog! Das war jahrelang unser Slogan“, mit einmal konnte Gustav gar nicht mehr aufhören zu reden. „Wie bitte?“, fragte Phyllis, hoffend, dass sie sich verhört hatte, „Alles was das Herz begelt?“ Der Alte mischte sich ein. Die Stimme aus dem Off. „Wir mussten das Wort „Begehrt“ ein bisschen ändern, damit es sich auf „Welt“ reimt. So einen Werbeslogan zu schreiben, ist echt harte Arbeit.“ Gustav warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Oh, herzlichen Glückwunsch“, er wischte sich die farbbeschmierte Hand an seiner noch beschmierteren Kittelschürze ab und reichte sie ihr, „Sie sind die erste Kundin seit genau zwanzig Jahren! Sie brauchen heute nichts zu bezahlen!“
Da reckte sich der ältere Mann von hinten über Gustavs Schulter, um diesen anzutippen. Dieser reckte sich zu ihm nach hinten, sodass der Alte fragen konnte: „Gustav, wir haben seit zwanzig Jahren keinen Penny verdient. Meinst du wirklich…“
Doch Gustav sagte nur: „Petter, du hast mir das Geschäft weitergegeben, also entscheide ich alles. Und du hältst den Mund. Verstanden?“
Phyllis beschloss, einzugreifen. „Also, eigentlich wollte ich wissen, ob ich hier arbeiten kann. Und da Sie mir vorhin bereits ein Angebot gemacht haben, auch wenn es nicht ernst gemeint war, wüsste ich gern, ob Sie nicht Hilfe bräuchten?“, fragte sie vorsichtig.
„Ja, also das wäre in der Tat vielleicht recht hilfreich…“, setzte der Alte an, doch er wurde von seinem Sohn unterbrochen.
„Petter, ich sagte: Halt den Mund. Wenn du so weitermachst, gehen wir zwei ins Lager, und nur einer kommt wieder heraus.“ Petter erstarrte mitten in der Bewegung.
Gustav musterte Phyllis von oben bis unten. Er sah ihre leicht lädierte Erscheinung, die Piercings, die Haare. Da würde sich einiges tun müssen. „Sehen Sie sich erst einmal um“, sagte er nachdrücklich. Phyllis fühlte sich unter Druck gesetzt, und drehte sich auf dem Absatz um, um krampfhaft die vollgestopften Regale zu begutachten. Es fühlte sich an, als müsste sie Krieg und Frieden lesen, obwohl sie dringend pinkeln musste.
Gustav beobachtete jede ihrer Bewegungen, als sie sich die Spielzeuge ansah. Tatsächlich hatte sie etwas an sich, das es nur sehr selten gab.
Jetzt war ein leises Schnaufen zu hören, weil Petter endlich aufhörte, die Luft anzuhalten und sich wieder zu rühren begann. Er wollte gerade zu einem gedämpften „Bitte, stell sie ein!“ ansetzen, aber Gustav nahm ihn mit einer Bewegung in den Schwitzkasten, stopfte ihm einen Teddy in den Mund (er wunderte sich, wie viel von dem Stofftier in den Mund seines Vaters passte) und sagte: „Wir gehen ins Lager“, woraufhin sein Vater ihm den Lötkolben aufs Handgelenk hielt, nur so lange, dass Gustav seinen Vater loslassen musste, und den Teddy aus seinem Mund entfernte. Er hustete, würgte und Frage: „Madam, haben Sie ein Hustenbonbon? Mein Sohn hat…“ doch er beendete den Satz nicht, weil er einen kräftigen Rippenstoß von Gustav bekommen hatte. Phyllis wühlte in ihren Taschen und beförderte ein Lakritzbonbon zutage. Gustav musste gegen seinen Willen schmunzeln. „Bei Ihnen ist alles schwarz, nicht wahr?“, wollte er wissen. „Zumindest läuft man in meiner Nähe nicht Gefahr, erleuchtet zu werden“, gab Phyllis zurück, jedoch weniger bissig als normal. Zu ihrem Erstaunen nervte sie diese merkwürdige Konversation kein bisschen. Als ihr dann auch noch auffiel, dass sie einen halbwegs vernünftigen Witz gemacht hatte, machte sie auch kleine Freudensprünge wie Petter. Als ihr einfiel, dass die anderen beiden sie dabei sehen konnten, hörte sie damit auf. „Darf ich fragen, was Sie in solche Hochstimmung versetzt, meine Dame?“, fragte Gustav.
„Nichts“, entgegnete Phyllis, „Ich freue mich nur darüber, dass es mir gelungen ist, einen halbwegs gesellschaftsfähigen Witz zu reißen. Und dann auch noch so spontan.“
Natürlich musste sich Petter dabei einmischen. „Das Gefühl kenne ich gut. Aber ich glaube, ich kann gleich auch wieder einen machen.“
Erwartungsvoll schauten Phyllis und Gustav Petter an.
Stille.
„Und? Wann kommt jetzt der Witz?“, fragte Gustav nach einer Weile genervt.
„Ja, Mann, jetzt hetz mich nicht so“, gab Petter zurück, „Ich muss doch noch darauf warten, dass mir einer einfällt!“
Als Phyllis Petter in die Augen blickte, wusste sie, dass er nicht so vertrottelt war, wie er tat. Sie fragte sich, welches Geheimnis er zu hüten versuchte.
Ich weiß, dass ihre Flucht ins Flugzeug etwas ungelenk war, vielleicht hat irgendjemand eine Idee, weshalb sie durch keine Sicherheitskontrolle musste und nicht entdeckt wurde?
Phyllis
Phyllis ging gemessenen Schrittes die Straße hinunter. Sie wusste, dass sie schon vor einer Stunde hätte da sein müssen, aber das war für sie kein Grund, sich zu beeilen. Man konnte nicht direkt sagen, dass Phyllis arrogant war, aber die Art, mit der sie Pflichten belächelte, war nicht immer angenehm. Sie wusste, wie begabt sie war und besuchte den Unterricht nur, weil es gesetzlich vorgeschrieben war. Durch die Vereinheitlichung des Schulsystems auf Europaebene musste die Sekundarstufe zwei zu einem dreißigstündigen Leistungskurs zusammengefasst werden. So hatten alle europäischen Bürger eine vergleichbare Schulbildung. Die dreißig Stunden wurden jeweils in Doppelstunden abgehalten, die einmal in der Woche am Nachmittag stattfanden, aber ein gründliches Maß an Vor- und Nachbereitung erforderten – auch für die Schüler. Dass Phyllis jeweils die erste Hälfte der Stunden schwänzte oder auch nur jede zweite besuchte, ließ sich darauf zurückführen, dass sie bis vier Uhr nachmittags etwas Besseres zu tun hatte, als in einer heruntergekommenen Halle mit neunundvierzig anderen Schülern vor einer Staffelei zu stehen und nicht anfangen zu dürfen, weil sie „noch nicht so weit waren“. Ohne einen zertifizierten Abschluss in einem Fach wollte aber kein Arbeitgeber ihr eine Stelle geben.
Phyllis war immer schon angeberisch gewesen, eine Einzelgängerin. Einige behaupteten, ihr Ehrgeiz habe ihr die Möglichkeit genommen, mit anderen Menschen Kontakt zu halten. Andere sagten, dass sie sich selbst isolierte, um sich vor äußeren Angriffen zu schützen. Den meisten war es aber egal. Phyllis verstand es, sich in Szene zu setzen, konnte jeden Professor davon überzeugen, dass sie trotz allem eine gewissenhafte Schülerin war, wusste, wie man Männer für sich gewann und hatte mit allen männlichen Gemeindemitgliedern geschlafen. Mehr wusste man nicht über Phyllis. Und keiner bemühte sich, mehr herauszufinden.
Von außen bot Phyllis einen düsteren und außergewöhnlichen Anblick. Sie war sehr groß, hatte dichtes schwarzes Haar, das ihr oft zerzaust und ungekämmt bis über die Taille fiel. Ihre Augen waren eisgrau und ihre Haut weiß und rein, fast durchsichtig. Phyllis war fast immer stark geschminkt, sodass aus den dunklen Farbmengen ihre Iris noch heller, fast weiß hervortrat. Sie trug immer Stachelhalsbänder und Piercings, besonders in den Ohren, den Augenbrauen und der Nase. Phyllis trug nur schwarze Kleidung, schwarze Schnürstiefel (auch wenn die schon bessere Tage gesehen hatten), schwarze, weit ausgestellte Hosen weiße Blusen, zerknittert und meist viel zu groß, darüber ein Mieder aus Latex, ebenfalls schwarz. Doch niemand hätte es jemals gewagt, sie in eine Subkultur einzusortieren, weil Phyllis ausnehmend religiös sein sollte. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte. Ihre Kindheit hatte sie in einem Kloster verbracht, weit außerhalb der Stadt. Damals wurde sie geliebt und bewundert von jedermann, denn sie war höflich und folgsam, und schon damals hatte sich ihr Talent zur Abbildung von allen möglichen Objekten herumgesprochen. Was sie so verändert, was diese schwarze Phyllis ausgelöst hatte, wusste in der gesamten Stadt keiner. Und Phyllis sprach mit niemandem darüber. Insgesamt nervten sie die anderen eher.
Und jetzt war sie fast mit ihrem Kurs fertig, nur noch diese Stunde, dann bekam sie ihr Zertifikat und würde verschwinden. Vehement stieß sie die Tür zur Halle auf. „Pardon“, murmelte sie in den Raum. Niemand achtete auf sie. So setzte sich Phyllis auf ihren Platz und tat, als hörte sie der Professorin zu, die etwas von Bildzentrum und Glanzlichtern erzählte. Phyllis kannte ihre Worte bereits. Sie zitierte sie eins zu eins aus dem „Großen Lehrbuch der Malerei“, das Phyllis mit ihrem fotografischen Gedächtnis schon im Alter von sieben Jahren auswendig gekonnt hatte.
Es nervte sie, dass den Lehrern so viel an Originalität fehlte. Wie sollten sie denn der kommenden Generation überhaupt etwas beibringen, wenn diese sich dieses Wissen schon im Alleingang in einer simplen Klosterbibliothek aneignen konnte? Und da wunderte sich alle Welt, dass der Bildungsstand der Europäer sank. Vor fünfzig Jahren noch hatte man in der Schule Mathematik gelernt, die über das Zählen und Errechnen von Preisen hinausging, die mehr als nur Statistiken beinhaltete, und Sprachen, die so vielfältig und unterschiedlich waren, dass man mit ihnen um die Welt hätte reisen können. Das hatte man damals aber auch noch gebraucht. 2130 sprach ganz Europa Englisch, vereinzelt noch Französisch, alle anderen Sprachen und Dialekte waren auf ehemalige europäische Kolonien verlagert und durch Gesetze verboten worden. Man hatte es geschafft, Europa zu einem einzigen großen Land mit vielen kleinen Staaten zu machen. Wie die USA. Weil die doch als Weltmacht früher so viel erreicht hatten.
Und in so einem großen Land, musste man da denn überhaupt irgendwas richtig lernen? Es gab doch schon alles. Es wurde nichts und niemand benötigt. Also wozu das Gehirn benutzen?
Am Ende der Stunde sagte die Professorin: „Phyllis, würden Sie bitte noch einen Moment zu mir kommen?“. Phyllis packte widerwillig ihre Tasche und lief zehn Schritte, exakt zehn Schritte, sie hatte nachgezählt, bis zum Pult im vorderen Teil der Halle.
„Wissen Sie, warum ich mit Ihnen sprechen wollte?“, fragte sie nachdrücklich. „Sie werden es mir ohnehin gleich sagen“, gab Phyllis zurück. Die Lehrerin ignorierte Phyllis’ spitze Bemerkung – wie immer. „Da Sie keine Angehörigen mehr haben, ist es meine Aufgabe als Ihre Lehrerin und Mentorin, Ihnen diesen Bescheid von der Stadtverwaltung zukommen zu lassen.“ Phyllis nahm das Papier ohne ein Wort und überflog das seitenlange Dokument.
Sehr geehrte Frau Phyllis Niobs,
Nach dem psychiatrischen Befund, den wir nach Ihrer Beratung in unserem Städtischen neurologischen Institut bekamen, weisen wir Sie hiermit wegen Promiskuität, Kleptomanie, unkontrollierten Verhaltens...
Phyllis übersprang die nächsten zweieinhalb Seiten, die angeblich von einem Psychiater diktiert worden waren, zu dem sie nach einer Verhandlung wegen mehrfachen Raubes und Körperverletzung geschickt worden war, und die ihr noch weitere kranke Eigenschaften vorwarfen, bis sie das Satzende erreichte: In die Kilmoor Klinik ein. Sollten Sie sich nicht direkt nach Erhalt dieses Schreibens dorthin begeben, wird eine polizeiliche Fahndung ausgestellt werden und Sie werden auf gerichtliches Urteil hin an diesen Ort gelangen.
Phyllis verließ die Halle ohne ein weiteres Wort. Dass hinter ihr die Lehrerin ans Telefon gegriffen hatte, um die Polizei zu benachrichtigen, konnte sie nur ahnen.
So schnell ihre Beine sie trugen, rannte Phyllis zum Flughafen, der zwanzig Häuserblocks weiter am Ende der Stadt lag. Es war bereits dunkel, doch immer wieder drangen Strahlen von Taschenlampen in ihre Augen. Sie hatten schon angefangen, nach ihr zu suchen. Ohne ein Flugticket zu kaufen, stahl sich die junge Frau in den Gepäckraum einer Maschine. Sie wusste nicht, wohin sie flog, sie musste nur möglichst schnell weg von hier. Bis zum Ende des Fluges fand man sie nicht.
Als die Maschine gelandet war und Phyllis das Flugzeug verließ, schlug ihr die Kälte ins Gesicht. Sie musste sich einige tausend Kilometer weiter nördlich befinden. Als sie das Flughafengelände verließ und durch Schleichwege ins Stadtinnere gelangte, entdeckte sie ein Schild: Stockholm Post Office. Sie war in der schwedischen Hauptstadt gelandet. Wie sollte sie hier ohne Geld, Schulabschluss und legale Identität überleben?
Sie lief durch so viele Straßen, dass Phyllis bald nicht mehr wusste, woher sie eigentlich gekommen war. Irgendwann fiel ihr ein kleiner Laden auf. Er hatte ein winziges, finsteres Schaufenster, das nur durch eine flackernde Neonleuchte erhellt wurde. Darin lagen Spielzeuge. Komisch, dachte Phyllis, dass ein Spielwarenladen so eine hässliche Erscheinung haben kann.
Das Gebäude, eine Reihenhaushälfte, war alt und baufällig. Der Putz bröckelte von der Fassade, der Lack blätterte von Tür und Fensterrahmen, und das Schild über dem Schaufenster ließ nur noch erahnen, dass dort einmal „Petters Spielewelt“ gestanden hatte. Vorsichtig näherte Phyllis sich dem kleinen Laden und sah sich die Puppen und Teddys an, die liebevoll in dem kleinen Fenster drapiert, aber dann offenbar dort vergessen worden waren, denn alle miteinander waren von einer dicken Staubschicht überzogen, und der rote Samt, auf dem sie lagen, war zerfressen von Motten und ausgeblichen von dem spärlichen Bisschen Tageslicht, das es erreichte.
Sie legte die Hand auf den eisernen Türgriff, traute sich aber nicht, die Tür zu öffnen, denn etwas an diesem Laden hatte etwas unbeschreiblich Hoffnungsloses und Verzweifeltes. Er erinnerte sie an sie selbst. Warum, wusste sie selber nicht, aber sie hatte Angst vor dem, was passierte, wenn sie diese Tür öffnete. Trotzdem hatte sie das Gefühl, keine Wahl zu haben. Bald würde man wieder auf ihre Spur kommen. Sie würden nach ihr fahnden, und wenn sie sich dann nirgendwo verstecken konnte, dann würde man sie auch finden. Und dieser Ort schien ihr noch am sichersten, um den Kontrollen der europäischen Polizeibrigade auszuweichen.
Sie atmete noch einmal tief ein, drückte die Klinke herunter und wurde mit einem ohrenbetäubenden Geschrei empfangen. Es war ein Clown in der Schachtel, die man aus jedem Kinderzimmer kennt – ein rotnasiger Kopf an einer Sprungfeder, der mit merkwürdigen Geräuschen durch die Luft sauste. Und offenbar war die Schachtel durch das Öffnen der Tür umgekippt, sodass dieser Clown aus einem voll gepackten Regal auf Phyllis’ Augenhöhe vor ihrem Gesicht herumhüpfte. Der Clown hatte für Phyllis etwas wahnsinnig Makaberes an sich, doch sie hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn sobald sie die Sprungfeder ordentlich zurück in die Schachtel gedrückt hatte, brach erneut irres Geschrei aus. Diesmal brauchte sie länger, um die Quelle dieses Geräusches zu identifizieren. Es war ein Mann. Er war hochaufgeschossen und schlank, hatte schütteres graues Haar und trug eine grüne Kittelschürze. In der rechten Hand hielt er einen Lötkolben, aus dem noch Zinn tropfte, in der Linken hatte er eine kleine Säge. Ihr fielen seine Augen auf. Sie waren hell, aber nicht grau, sondern von einem sonderbaren Braunton, sie erinnerten an Gold oder geschälte Haselnüsse oder hellen Bernstein. Oder Crème Brûlée.
„Eine Kundin, Gustav, komm schnell, wir haben eine Kundin!“, rief der Mann mit einer Stimme aus, die es Phyllis kalt den Rücken hinunterlaufen ließ. Sie war höher als erwartet und klang irgendwie verrostet. Es klang so, wie wenn jemand rohe Karotten durch eine feine Käsereibe reibt. „Was kann ich für Sie tun?“, krächzte der große Mann dann. Phyllis blickte ihn an, blickte sich um, entdeckte noch mehr Staub, Spinnenweben, nahm einen sehr strengen Geruch wahr, und sah dann auf den Lötkolben in der Hand des Mannes, der inzwischen eine immer fester werdende Pfütze auf dem schmuddeligen Marmorboden hinterlassen hatte. Inzwischen hatte Gustav sich neben den Mann gestellt. Gustav war groß, sogar noch größer als Petter, hatte ein breites Kreuz, muskelbepackte Arme, und einen Gesichtsausdruck, gegen den Phyllis regelrecht freundlich aussah. Seine schwarzen Augen funkelten unter zusammenwachsenden Augenbrauen wütend auf sie hinunter, die Flügel seiner gewaltigen Nase zitterten vor Wut, und sein braunes Haar hatte er im Nacken zu einem strengen Zopf gebunden. Unterhalb des Gummibandes, das es zusammenhielt, sprangen widerspenstige Locken heraus. Sie hätten sein hageres Gesicht perfekt umrahmen können, hätte er sie kurz und offen getragen. Ein ausladender Schnurrbart verdeckte seine wahrscheinlich ohnehin sehr dünne Oberlippe, und seine Unterlippe sah aus, als würde sie sich gleich unsichtbar kräuseln. Phyllis überlegte sich gerade, dass es jetzt vielleicht nicht ratsam wäre, ehrlich zu sein, da hatte sie bereits gesagt: „Hier müsste mal jemand saubermachen.“
Wenn sie gefunden hatte, dass der freundliche, durchgeknallte Mann eine zu hohe Stimme hatte, hatte Gustav genug Stimme für sie beide. „Wann können Sie anfangen?“, fragte er.
Phyllis kam sich etwas überrumpelt vor und merkte, dass sich in den wenigen Minuten etwas an ihr verändert hatte. Sie beschloss, jetzt den Humor zu beweisen, den noch keiner an ihr wahrgenommen hatte, nicht mal sie selbst und sagte: „Hier geht’s aber schnell zur Sache.“ Sofort stellte sie fest, dass das nicht einmal witzig war. Nur störte sie das irgendwie nicht. Und auch sonst niemanden.
Ein weiteres Mal wurde Phyllis von einem ohrenbetäubenden Geräusch fast zu Tode erschreckt. „War nur ein Scherz! Aber gut gekontert. Ich bin Gustav. Und Sie? Wonach suchen Sie? Wir von Petters Spielewelt ha’m alles, was das Herz begelt, nach Teddys, Puppen, Spielzeuglok, suchen Sie im Katalog! Das war jahrelang unser Slogan“, mit einmal konnte Gustav gar nicht mehr aufhören zu reden. „Wie bitte?“, fragte Phyllis, hoffend, dass sie sich verhört hatte, „Alles was das Herz begelt?“ Der Alte mischte sich ein. Die Stimme aus dem Off. „Wir mussten das Wort „Begehrt“ ein bisschen ändern, damit es sich auf „Welt“ reimt. So einen Werbeslogan zu schreiben, ist echt harte Arbeit.“ Gustav warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Oh, herzlichen Glückwunsch“, er wischte sich die farbbeschmierte Hand an seiner noch beschmierteren Kittelschürze ab und reichte sie ihr, „Sie sind die erste Kundin seit genau zwanzig Jahren! Sie brauchen heute nichts zu bezahlen!“
Da reckte sich der ältere Mann von hinten über Gustavs Schulter, um diesen anzutippen. Dieser reckte sich zu ihm nach hinten, sodass der Alte fragen konnte: „Gustav, wir haben seit zwanzig Jahren keinen Penny verdient. Meinst du wirklich…“
Doch Gustav sagte nur: „Petter, du hast mir das Geschäft weitergegeben, also entscheide ich alles. Und du hältst den Mund. Verstanden?“
Phyllis beschloss, einzugreifen. „Also, eigentlich wollte ich wissen, ob ich hier arbeiten kann. Und da Sie mir vorhin bereits ein Angebot gemacht haben, auch wenn es nicht ernst gemeint war, wüsste ich gern, ob Sie nicht Hilfe bräuchten?“, fragte sie vorsichtig.
„Ja, also das wäre in der Tat vielleicht recht hilfreich…“, setzte der Alte an, doch er wurde von seinem Sohn unterbrochen.
„Petter, ich sagte: Halt den Mund. Wenn du so weitermachst, gehen wir zwei ins Lager, und nur einer kommt wieder heraus.“ Petter erstarrte mitten in der Bewegung.
Gustav musterte Phyllis von oben bis unten. Er sah ihre leicht lädierte Erscheinung, die Piercings, die Haare. Da würde sich einiges tun müssen. „Sehen Sie sich erst einmal um“, sagte er nachdrücklich. Phyllis fühlte sich unter Druck gesetzt, und drehte sich auf dem Absatz um, um krampfhaft die vollgestopften Regale zu begutachten. Es fühlte sich an, als müsste sie Krieg und Frieden lesen, obwohl sie dringend pinkeln musste.
Gustav beobachtete jede ihrer Bewegungen, als sie sich die Spielzeuge ansah. Tatsächlich hatte sie etwas an sich, das es nur sehr selten gab.
Jetzt war ein leises Schnaufen zu hören, weil Petter endlich aufhörte, die Luft anzuhalten und sich wieder zu rühren begann. Er wollte gerade zu einem gedämpften „Bitte, stell sie ein!“ ansetzen, aber Gustav nahm ihn mit einer Bewegung in den Schwitzkasten, stopfte ihm einen Teddy in den Mund (er wunderte sich, wie viel von dem Stofftier in den Mund seines Vaters passte) und sagte: „Wir gehen ins Lager“, woraufhin sein Vater ihm den Lötkolben aufs Handgelenk hielt, nur so lange, dass Gustav seinen Vater loslassen musste, und den Teddy aus seinem Mund entfernte. Er hustete, würgte und Frage: „Madam, haben Sie ein Hustenbonbon? Mein Sohn hat…“ doch er beendete den Satz nicht, weil er einen kräftigen Rippenstoß von Gustav bekommen hatte. Phyllis wühlte in ihren Taschen und beförderte ein Lakritzbonbon zutage. Gustav musste gegen seinen Willen schmunzeln. „Bei Ihnen ist alles schwarz, nicht wahr?“, wollte er wissen. „Zumindest läuft man in meiner Nähe nicht Gefahr, erleuchtet zu werden“, gab Phyllis zurück, jedoch weniger bissig als normal. Zu ihrem Erstaunen nervte sie diese merkwürdige Konversation kein bisschen. Als ihr dann auch noch auffiel, dass sie einen halbwegs vernünftigen Witz gemacht hatte, machte sie auch kleine Freudensprünge wie Petter. Als ihr einfiel, dass die anderen beiden sie dabei sehen konnten, hörte sie damit auf. „Darf ich fragen, was Sie in solche Hochstimmung versetzt, meine Dame?“, fragte Gustav.
„Nichts“, entgegnete Phyllis, „Ich freue mich nur darüber, dass es mir gelungen ist, einen halbwegs gesellschaftsfähigen Witz zu reißen. Und dann auch noch so spontan.“
Natürlich musste sich Petter dabei einmischen. „Das Gefühl kenne ich gut. Aber ich glaube, ich kann gleich auch wieder einen machen.“
Erwartungsvoll schauten Phyllis und Gustav Petter an.
Stille.
„Und? Wann kommt jetzt der Witz?“, fragte Gustav nach einer Weile genervt.
„Ja, Mann, jetzt hetz mich nicht so“, gab Petter zurück, „Ich muss doch noch darauf warten, dass mir einer einfällt!“
Als Phyllis Petter in die Augen blickte, wusste sie, dass er nicht so vertrottelt war, wie er tat. Sie fragte sich, welches Geheimnis er zu hüten versuchte.
Ich weiß, dass ihre Flucht ins Flugzeug etwas ungelenk war, vielleicht hat irgendjemand eine Idee, weshalb sie durch keine Sicherheitskontrolle musste und nicht entdeckt wurde?